Menu

Saarbrücken, 01.01.2014. Vor drei Jahren verstarb Oliver Wessel-Therhorn, mehrfacher Weltmeister und international anerkannter Erfolgstrainer. Bereits 1995 verfasste er in der Publikation "Tanzen weltweit" seine Gedanken zu Tanzsportthemen, die ihn damals bewegt haben und die auch heute noch erstaunlich aktuell sind.

OWTGrundlage seiner tänzerischen Entwicklung war die Leidenschaft zur Musik: "Als ich die Schule hinter mir hatte, wollte ich irgendeinen Job. Ich meldete mich bei Karstadt, und man fragte mich, was ich denn so könnte. Ja, tanzen könnte ich wohl etwas und ein Musikfreak wäre ich auch schon seit langem. Na prima, sagten die Leute, da passen Sie ja wunderbar in unsere Schallplattenabteilung. Auch ohne Ausbildung zum Schallplattenverkäufer wusste ich von Anfang mehr als alle, die da angestellt waren. Das Jahr bei Karstadt war für meine Karriere nicht unwichtig, ich konnte da in alles hineinhören, und ich fing an zu sammeln."

Seine Liebe zu den amerikanischen Sängern und Entertainern war bekannt, zu Frank Sinatra, Sammy Davis, Dean Martin, aber auch zu Barbra Streisand. Im deutschsprachigen Bereich interessierte ihn eigentlich nur Udo Jürgens. Ihn beeindruckte besonders, wie diese Leute dieselben Songs auf völlig unterschiedliche Art interpretieren konnten.

Interpretation
"Ich vergleiche musikalisches Tanzen gern mit Gesangsinterpretation. Man kann Sängern wie Tänzern denselben Text und dieselben Noten geben, und beide machen daraus etwas Unverwechselbares. Von Barbra Streisand oder Frank Sinatra kann man eine Melodie, die vom Komponisten in einer ganz bestimmten Phrasierung geschrieben wurde, plötzlich völlig anders phrasiert hören. Der Text kriegt vielleicht einen ganz neuen Sinn, und mit der Melodie spielen diese Leute innerhalb eines bestimmten Taktbereichs, wie man ja auch von einem guten Tänzer nie erwarten soll, dass er "im Takt" tanzt, sondern nur verlangen darf, dass er nicht "außer Takt" tanzt, weil ein musikalischer Tänzer eben genauso wie der Gesangsinterpret mit dem Takt spielt, den Takt umspielt (und dabei manchmal soweit geht, dass ein unmusikalischer Wertungsrichter ihn wegen "Verstoß gegen Wertungsgebiet Nr. 1" auf den letzten Platz wertet).
Der Schwungablauf im Slow von Federschritt-Dreierschritt ist natürlich im Prinzip der gleiche, aber der Tanz muss völlig anders aussehen und wirken, wenn er zu Frank Sinatra oder zu Hugo Strasser getanzt wird. Sonst ist es eben keine Interpretation, kein musikalisches Tanzen. Anders aussehen und wirken heißt natürlich auch, sich anders fühlen. Und das geht natürlich nur, wenn alles Technische ausgereift ist und sich selbst versteht."

Phrasierung
"In der Tanzwelt gibt es ein Klischee, das lautet: Musikalisches Tanzen ist phrasiertes Tanzen. Dem kann ich nur sehr bedingt zustimmen. Praktisch immer phrasiere ich Samba und Jive auf acht Takte, aber ich binde das den Paaren nicht auf die Nase ("Achtung: Ich phrasiere jetzt euer Programm!"), sondern ich erwarte, dass sie das spüren. Mit anderen Worten, wenn man das musikalische Tanzen forciert, indem man auf das Hinhören drängt, dann fördert man automatisch das phrasierte Tanzen. Wenn man dagegen das phrasierte Tanzen forciert, dann erzeugt man womöglich wieder nur den "Programm-Erfüller". Außerdem gibt es dieses schreckliche Gegenbeispiel: den Paso doble. Der ist "mit tödlicher Sicherheit" phrasiert und doch nichts anderes als eine abgeleistete Choreografie. Nimmt man eine andere Musik, vergessen die meisten schon ihre Schritte."

Zu guter Letzt
"Irgendwie scheint man den Eindruck zu haben, die Fähigkeit zu musikalischem Tanzen sei eine Gottesgabe, die man hat oder eben nicht hat. Da wird Musikalität mit Spontaneität verwechselt und die Spontaneität überschätzt. Ich lese alle Musiker- und Tänzerbiographien, die mir in die Finger kommen. Bei Fred Astaires Autobiographie springt es förmlich ins Auge, dass dieser Tänzer, der so spontan wirkt, das absolute Gegenteil war. Besonders nachhaltig beeindruckt hat mich folgendes: In dem Film 'Funny Face' tanzt er mit einem Regenschirm, wirft den Schirm hinter sich in den Eimer. Da war kein Schnitt und kein Trick in der Szene. Und es war auch kein Glückstreffer. Ich muss das hundertmal hintereinander schaffen, hat er sich gesagt, und nicht nur hundertmal hintereinander, sondern erst dann, wenn ich am nächsten Morgen wieder reinkomme und das wieder mache und wieder treffe, dann weiß ich, ich kann's. Jetzt kann ich Kamerateam, Regisseur usw. bestellen und kann ihnen zumuten, meinen Tanz zu filmen."

(Auszüge aus "Tanzen weltweit", Christoph Burgauner (Hrsg.), Kastell Verlag)